Charles Huber

Wie Wissenschaftler zu Detektiven werden

Forschung

Hinter dem unbekannten Forscher Albert Müller verbirgt sich eine filmreife Lebensgeschichte. Doch nach einem erfolgreichen Karrierestart verschwindet der Wissenschaftler plötzlich komplett von der Bildfläche. Mit einer neuen Biografie tritt eine unglaubliche Lebensgeschichte ans Licht.

Nur durch Zufall stösst unser Entomologe Charles Huber auf Albert Müller. Als er in einem alten Album mit Fotografien von verschiedenen Insektenforschern blättert, wird er plötzlich stutzig, denn er stolpert über einen ihm unbekannten Forscher: Albert Müller. Laut Beschriftung ist Albert Müller nicht nur Hubers Vorgänger, sondern auch der erste Konservator für Entomologie in Bern. Huber ist überrascht, dass ihm sein Vorgänger nicht bekannt war und beginnt, dessen Leben zu recherchieren. Die aufwändige Recherche dauert fast 2 Jahre und fördert eine hollywoodreife Lebensgeschichte mit tragischem Ende zutage.

Doch zunächst heisst es, Fussarbeit zu leisten: Um auf nützliche Hinweise zu stossen, muss Huber zu kreativen Methoden greifen. Er sucht beispielsweise nach Müllers Personaldossier oder vergleicht die Beschriftung von Müllers Foto mit Objektetiketten der Insektensammlung des NMBE und kann dank der identischen Handschrift erste Zusammenhänge erschliessen. Die Recherche wandelt sich mehr und mehr zu akribischer Detektivarbeit: Huber kämpft sich durch ganze Stapel von Sitzungsprotokollen des Entomologischen Vereins Bern, wo auch Albert Müller Mitglied war, und macht sich auf die Suche nach Müllers familiären Wurzeln und wissenschaftlichen Publikationen.

Nach und nach kann Huber die verschiedenen Anhaltspunkte verbinden und die Biografie von Albert Müller wird immer wie vollständiger. «Ich habe schnell gespürt, dass sich hinter der Biografie von Albert Müller eine spannende Geschichte verbirgt», erzählt Huber - er sollte Recht behalten. Was am Anfang nur als kleine Recherche gedacht war, entwickelt sich nach und nach zur Aufarbeitung einer ganzen Lebensgeschichte.

Über den Autor: Charles Huber

Seit Charles Huber 1976 als Sammlungsassistent am Naturhistorischen Museum Bern zu arbeiten begann, trennten sich seine Wege und jene des Museums nicht mehr. Von 1988 bis 1995 war Huber a. i. Konservator für Entomologie und von 1995 bis 2015 Kurator für Entomologie. Ab 1994 war er rund 20 Jahre lang Vizepräsident des Entomologischen Vereins Bern (EVB). Zusätzlich zur Biografie «Das vergessene Leben des Entomologen Albert Müller aus Basel» (2019) verfasste er etliche Bücher und Publikationen, unter anderem die Vereinschronik des EVB «Die Ringe des Apollo» (2008). Seit seiner Pension arbeitet Huber weiterhin am NMBE und realisiert als wissenschaftlicher Mitarbeiter verschiedene Forschungsprojekte.

Eine filmreife Biografie

Albert Müller wird 1844 geboren und wächst mit seiner Familie in ärmlichen Verhältnissen in Kleinbasel auf. Bereits im Schulalter beginnt er sich für die Wissenschaft der Insekten zu interessieren, seine Familie kann ihm aber nur die Ausbildung zum Kaufmann bezahlen. Doch daneben verschafft er sich Kontakt zu Forschern und eignet sich schnell eigenes Fachwissen an. Bereits mit 17 Jahren wird er Mitglied der Schweizerischen Entomologischen Gesellschaft.

Mit 20 Jahren verlässt Albert Müller Basel und zieht nach London zu seinem Bruder, wo er als Kaufmann arbeitet. Die Liebe zur Entomologie lässt ihn aber nicht los: Er forscht eifrig weiter und veröffentlicht bald seine ersten Publikationen. In der Hauptstadt Englands baut sich der junge Basler ein grosses Netzwerk auf, wird Teil der renommierten «Entomological Society» und tritt sogar mit dem berühmten Forscher Charles Darwin in Briefkontakt.

Albert Müllers Verbindungen in die Schweiz brechen während seinem Aufenthalt in London jedoch nie ab. Als 1874 die Stelle als Direktor des neu errichteten Zoologischen Gartens in Basel ausgeschrieben wird, bewirbt sich der Insektenforscher. Mit nur 30 Jahren wird Müller der erste Direktor des heute beliebten «Zolli». Doch vieles läuft nicht nach Wunsch: Unter anderem aufgrund der schwierigen finanziellen Lage endet die Anstellung für Müller bereits nach wenigen Monaten. Anstatt Trübsal zu blasen, wendet sich Albert Müller jedoch wieder voller Tatendrang der Forschung zu. Unter anderem eröffnet er in Basel seine eigene Entomologische Station - heute spräche man von einem kleinen Bildungsinstitut. Fünf Jahre später wird der Basler zum ersten entomologischen Konservator am NMBE ernannt. Eine regelrechte Überraschung, denn in Bern hätte es auch andere Kandidaten gegeben.

Der dramatische Wendepunkt

Im Verlauf des zweiten Jahres als Konservator in Bern nimmt Albert Müllers Karriere eine drastische Wende. Plötzlich fällt er immer wie mehr durch spezielles Verhalten auf, anhaltende Kopfschmerzen plagen ihn und er hat Halluzinationen. Bald fühlt er sich zu seiner Arbeit nicht mehr in der Lage und reicht dem NMBE die Kündigung ein. In einem medizinischen Gutachten wird eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Kurz daraufhin tritt der 37-jährige Entomologe in eine «Irrenanstalt» ein, die er nie mehr verlassen wird. 1922 stirbt Albert Müller nach über 40 Jahren in der Anstalt in Basel.

Absturz vom 10-Meter-Brett

Was wäre aus der Karriere von Albert Müller geworden, hätte er nicht sein halbes Leben an die schwere Erkrankung verloren? Charles Huber, Autor von Müllers Biografie, ist überzeugt, dass Müller eine grosse wissenschaftliche Zukunft vor sich gehabt hätte. Durch die Krankheit nimmt die Karriere des leidenschaftlichen Forschers stattdessen ein jähes Ende. Huber vergleicht die drastische Wende in Müllers Leben mit einem «Absturz vom 10 Meter-Brett».

Da zusätzlich die meisten Publikationen von Müller in England erschienen sind und seine Sammlungen für die Wissenschaft nicht von grosser Bedeutung sind, blieb er trotz den beiden renommierten Arbeitsstellen in der Schweiz bis heute ein Unbekannter.

«Albertli» wird Müller von Charles Huber liebevoll genannt. Für ihn sei sein Vorgänger am NMBE durch die Recherche wie ein Bruder geworden, erzählt Charles Huber. «Mich fasziniert besonders, wie der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Albert Müller in seiner Zeit eine solch grosse Leidenschaft für das brotlose Business der Wissenschaft entwickelte», erklärt Huber. Dank der leidenschaftlichen Recherche von Charles Huber bleibt die spannende Lebensgeschichte von Albert Müller, dem ersten entomologischen Konservator am NMBE und dem ersten «Zolli»-Direktor in Basel, jedoch nicht weiter in Vergessenheit.

«Das vergessene Leben des Entomologen Albert Müller aus Basel» von Charles Huber erschien in der Reihe «Contributions to Natural History: Scientific Papers from the Natural History Museum Bern» und ist erhältlich bei contact@nmbe.ch.